Neulich sagte Frau Illner im Tagesspiegel, ihre liebste Politikerphrase sei, das Kapital sei ein scheues Reh. Ein Leser notierte daraufhin etwas arrogant, das sei gar
keine Phrase, sondern ein Zitat. Stammt von Karl Marx bzw. der nimmt 1867 auf den britschen Thomas Dunning bezug. Sollte eigentlich zum Allgemeinwissen gehören wenn man andere Leute als oberflächliche Dampfplauderer kritisiert.
Die Vermutung, die von allerlei Arbeitgeberpräsidenten immer wieder gerne ins Feld geführte Metapher vom Kapital als scheuem Reh stamme von Marx, findet sich noch häufiger, originellerweise besonders gerne in Publikationen aus der Westberliner Potsdamer Straße: hier und hier.
Die einzige Marxstelle, die meines Erachtens gemeint sein könnte, ist jedoch die Fußnote 250 im 24. Kapitel des ersten Bandes des „Kapital“:
„Kapital“, sagt der Quarterly Reviewer, „flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel.“ (T.J. Dunning, l.c.p. 35, 36.)
Also hat Marx nicht nur nicht die (eigentlich nicht unhübsche) Metapher vom scheuen Reh auf die Ökonomie angewandt, er hat sie auch nicht zitiert, sondern die Stelle, die er zitiert hat, gibt nur auf der einen Seite einen verwandten Gedanken wieder, relativiert diesen andrerseits jedoch.
Sollte es aber doch irgendwo ein entsprechendes Marxzitat geben – mich würd’s sehr interessieren, es wär‘ nett, wenn man’s mir mitteilte.
Wofür diese Recherche jedoch gut sein soll, weiß ich selber nicht.
[…] ein scheues Reh, so wird Karl Marx gern zitiert, obwohl er’s gar nicht gesagt […]
[…] PPS: einen guten Beitrag zu diesem Zitat findet man auf kraussblog. […]