Heute Abend wird es wieder so sein: Alle Welt, darunter 30 Millionen Deutsche, sind sicher, ein Fußballspiel zu sehen, nämlich im Fernsehen. Auf der Grundlage der gelieferten Bilder wird das, was man glaubt gesehen zu haben, das Finale zwischen Deutschland und Spanien, dann analysiert: Mehr über die Außen oder mehr durch die Mitte hätte die eine oder andere Mannschaft kommen müssen, mehr Druck machen oder mehr Ruhe im Spielaufbau, häufiger mal Distanzschüsse oder flache Pässe an die Spitzen das gesamte Arsenal fußballanalytischer Begriffe wird abgefeuert.
Doch was man gesehen haben wird, ist nicht das Fußballspiel, sondern die Inszenierung des Fußballspiels: Wer vor einem Eckball den ruhenden Ball gezeigt bekommt und nicht sieht, wie sich die Mannschaften vor dem Tor positionieren, hat, sollte es zu einem Torerfolg kommen, die bedeutsame Entwicklung zu diesem Tor nicht gesehen.
Zensurvorwürfe werden jetzt schon laut: einerseits zu Recht, andererseits greifen sie zu kurz. Das Schweizer Fernsehen etwa beschwerte sich über die Bildauswahl der für die Übertragung zuständigen Firma, einem Tochterunternehmen der Uefa. In der Berliner Zeitung schreibt Rainer Braun:
Aus journalistischer Sicht mehr als problematisch“ bewertete SRG-Direktors Armin Walpen schon zuvor die Bildauswahl der Uefa-Tochter, weil unschöne Ereignisse wie der Abschuss von Leuchtkörpern oder Fan-Ausschreitungen von der Uefa ausgeblendet werden. Deren Sprecher William Gaillard erklärt dazu, dass die Uefa keine Bühne für Gewalt bieten wolle. Er erinnerte auch daran, dass die Uefa-Tochter Bilder auf zehn Kanälen anbiete, aus denen sich die TV-Sender bedienen könnten.
In einem Beitrag von Thomas Wagner für den Deutschlandfunk heißt es:
So schildert die Schweizerische „Sonntagszeitung“ Beispiele, wo die Uefa-Kameras während der Life-Übertragung ganz schnell wegschwenkten – als beispielsweise ein kroatischer Fan gegen Helfer randalierte, als beim Spiel Kroatien gegen Österreich ein Exibitionist aufs Spielfeld rannte oder Fans unerlaubt Brandfackeln entzündeten.
Sich daraus ergebende Kritik wird von den Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland erstaunlicherweise abgewimmelt, berichtet Rainer Braun:
Bei der ARD will man davon nichts wissen: „Egal, ob EM oder Olympische Spiele – wir sind immer auch mit eigenen Kameras vor Ort“, sagte NDR-Programmdirektor Volker Herres. „Das heißt, wir sind nicht ausschließlich auf die Bilder angewiesen, die uns geliefert werden. Bei uns verpassen die Zuschauer daher nichts.“
Überträgt man diese merkwürdige ARD-Antwort auf das heutige Fußballfinale, merkt man, wie dämlich sie ist: Herr Herres beharrt darauf, dass, wenn er erstmal gute Bilder für den Zuschauer rausgesucht und schlechte Bilder aussortiert hat, alles zu sehen sei. Man sieht aber gerade nur das, was Herr Herres gut findet, und wenn er ernsthaft glaubt, das sei alles, hat er ein Problem, das nicht mit Journalismus zu lösen ist.
Was Herr Herres nicht weiß, aber, wenn man ihn in solchen Dingen wie Medientheorie mal ausgebildet hätte, wissen sollte, hat in einem sehr klugen Aufsatz Simon Rothöhler im Freitag zusammengefasst und auf die Euro angewendet:
Das Bild, das die Welt sich dieser Tage vom Fußball macht, basiert genau genommen auf Montageentscheidungen
Die provozierten ein besondere Art der Inszenierungskritik:
Viele Vorwürfe klingen dabei wie Echos der klassischen Ideologiekritik am Hollywoodkino: Zu wenig Raumintegrität, zu hohe Schnittfrequenz, zu viele Nahaufnahmen nebst Hegemonie des Star-Bildes und autoritärer Lenkung des Zuschauerblicks. Die Inszenierungskritiker fordern im Grunde, dass das Weltbild eher wie das aktuelle Weltkino – die Filme von Regisseuren wie Abbas Kiarostami oder Lav Diaz sind gemeint – sein sollte: Reduzierte Montage, distanzierte Plansequenzen, egalitär gesinnter Ensemblefilm mit Laiendarstellern statt Politik des Stars. Es geht um eine Ästhetik, die an raum-zeitlicher Kontinuität interessiert ist und das Vorgefundene nicht zu stark transformiert.
Aber, argumentiert Rothöhler, die Kritiker
träumen von einer Annäherung zwischen der Wahrnehmungssituation im Stadion und den Darstellungskonventionen, die das Sportereignis in ein Fernseh-Event überführen. Die Weltbild-Regie kann aber nicht reinen Experten-Interessen folgen, indem sie beispielsweise das Verhalten der Viererkette beim Angriff des eigenen Teams zeigt, sondern muss nach einer objektiveren Auflösung des Spiels suchen.
Was herauskommt, ist also nie und nimmer das Abbild eines Fußballspiels, über das am nächsten Morgen diskutiert wird. Das liegt nicht an Zensur, nicht an populistischer Bildführung, nicht an der Unfähigkeit der Regisseure und übrigens schon gar nicht an Béla Réthy. Es liegt am Medium Fernsehen.
Nachtrag: Von diesem Thema handelt auch meine letzte, also meine finale EM-Kolumne in der Netzeitung: Servus, Grüezi und Hallo.